Der Umgang mit Wildlingen und seeehr scheuen Katzen
Wenn man sich dazu entschliesst, Wildlinge oder sehr scheue Katzen (z.B. vom Auslandstierschutz) zu sich holen, braucht man Geduld. Hat man die nicht, soll man die Finger von solchen Tieren lassen.
Und mit Geduld meine ich: Geduld-Geduld-Geduld-GEDULD!
Was mir sehr wichtig ist: es lohnt sich.
Es gibt nichts Schöneres, als einer (falls man schon eine Erstkatze hat) oder zwei Angstkatzen (Einzelkatzenhaltung in der Wohnung ist auch bei solchen Katzen nichts anderes als Tierquälerei) dabei zu helfen, ihre Angst zu überwinden. Ich sitze hier inmitten von ehemaligen Wildlingen, die zu klettenartigen Schosskatzen mutierten. Manchmal so klettig, dass es äääächt anstrengend ist. 😉
(ich krieg irgendwann einen Tennisarm, weil es nur selten vorkommt, dass gerade keiner an mir dran hängt und getragen werden will).
Wie fängt man es nun an, wenn ein Wildling oder eine Angstkatze einziehen?
Man bereitet einen Raum vor. Das kann durchaus auch ein Mini-Räumchen sein, je übersichtlicher für das Tier, desto besser. Vom Wohnzimmer rate ich ab, es sei denn, man ist bereit, das Wohnzimmer anfangs hauptsächlich der Katze zu überlassen und auf TV-Gucken und Musikhören zu verzichten. Oder einen Kopfhörer zu benutzen.
In diesen Raum stellt man in eine Ecke ein Katzenklo (kein Haubenklo, sondern ein offenes Katzenklo), besser aber noch zwei Katzenklos. Möglichst weit vom Katzenklo entfernt stellt man den Futternapf. Der Wassernapf sollte in einer weiteren Ecke des Raumes untergebracht werden.
Dann kommt noch ein Kratzbrett (falls man Kratzbaum nicht rumschleppen will) und ein Kuschelbettchen dazu. Ebenso ein paar Spielsachen, die keine Geräusche machen. Also keine Bällchen mit Glöckchen oder Rasselmäuse oder so. Sondern geräuschlose Spielsachen.
Fertig ist das Katzenzimmer und das Angsthäschen kann einziehen.
Oh, halt. Was vergessen: Falls Möbel in dem Raum stehen, unter die die Katze krabbeln und sich dort verstecken kann, sollte man diese mit Büchern oder Brettern verbarrikadieren. Es ist nicht hilfreich, wenn sich die Angstkatze unter einem Möbelstück verkriecht und immer nur die Füsse und Beine des Menschen sieht. Denn, wie soll man da mit ihr Kontakt aufnehmen, ohne dauernd flach auf dem Bauch auf dem Boden zu liegen?
Also, alles worunter die Katze sich verstecken könnte, abdichten. Ihr Rückzugsort ist die Kuschelhöhle oder der Kennel mit der abmontierten Türe, weil von dort aus kann sie sehen, was sie sehen soll und hat trotzdem einen geschützten Rückzugsort.
Die ersten ein oder zwei Tage sollte man die Katze in Ruhe lassen. Nicht lange bequatschen und schon gar nicht versuchen, sie zum Spielen aufzufordern. Die Spielsachen im Raum sind nur dazu da, dass sie sich damit beschäftigen kann, wenn sie alleine ist und das möchte.
So weit, so einfach. Jetzt kommt der schwierige Teil. Man muss SICH SELBST beobachten.
Folgendes sollte vermieden werden:
- Keine raschelnden Klamotten
- Keine schnellen Bewegungen. Man sollte sich in dem Zimmer, in dem die Angstkatze einquartiert ist, wie in Zeitlupe bewegen. Ohne Spass, das ist wichtig.
- auf Hartböden keine “lauten” Schuhe, die bei jedem Schritt klackern.
Ist der Angsthas nun also eingezogen, lässt man ihn erstmal zwei Tage in Ruhe. Ab und zu mal in den Raum gehen, Futter bringen, Wasser wechseln und Katzenklo putzen und dabei leise mit der Katze reden. Das wars.
So ungefähr am dritten Tag fängt man dann an, Kontakt aufzunehmen. Schnappt euch ein Buch, setzt euch zu der Katze ins Zimmer, möglichst so, dass sie euch von ihrem Versteck/der Kuschelhöhle aus sehen kann.
Lest ihr vor, erzählt ihr Geschichten und babbelt sie an. Sobald sie in eure Richtung schaut, solltet ihr blinzeln. Also laaaangsam die Augen auf und zu machen. Das heisst auf kätzisch: ist alles ok, passiert nix, ich tu dir nix, du kannst mir vertrauen.
Und piepen. Und babbeln. Lacht ihr manchmal Mütter aus, die mit ihren Zwergen in dieser Mutter-Baby-Sprache plappern? Nun denn, genau dieses Deideidei-Geplapper und anpiepen ist genau das Richtige, um Kontakt zu Angsthasenkatzen aufzunehmen. Los, traut euch! Je alberner, desto besser. Wildlinge und Panikkatzen lieben das. Es beruhigt sie, denn, so lange ihr euch lieb anhört, habt ihr nicht vor, ihr den Hals umzudrehen. Und damit rechnen Angstkatzen und Wildllinge ständig. Wer leise singt und Babysprache babbelt, der hat nix Böses im Sinn.
Liedchen leise vorsingen ist auch super.
Und nein, ich bin nicht völlig durchgeknallt. Das alles hat seinen Sinn, glaubt es mir einfach. Und es wirkt.
Dann kann man ganz laaaangsam auch anfangen, die steif und starr vor Angst in der Höhle hockende Katze zu aktivieren. Am besten eignet sich dazu das Kissen-Pinsel-Spiel. Das ist das Beste von allen Spielen am Anfang, weil es sehr ruhig ist, der Mensch sich dabei nicht bewegen muss und die Katze (die noch total angespannt bis verkrampft ist) sich dafür nicht frei im Raum bewegen mus, was sie zu dem Zeitpunkt eh noch nicht machen würde.
Das Kissen-Pinsel-Spiel geht so: Man nimmt ein grosses Kissen und einen Pinsel. Das kann ein Wasserfarbenpinsel oder ein kleinerer Malerpinsel oder ein Kosmetikpinsel sein. Langer Stiel ist von Vorteil.
Kissen (mit Abstand natürlich) vor die Katze legen, bzw. deren Kuschelhöhle und den Pinsel unter dem Kissen langsam bewegen und vorgucken lassen.
Weil ich das nicht wirklich gut erklären kann, habe ich eben mit Fiete, unserem Versuchstier ein kurzes Video gedreht:
Fiete ist natürlich alles andere als eine Angstkatze, sondern das genaue Gegenteil. Aber es geht ja nur um das Kissen und den Pinsel, nicht um den kleinen Wichtigtuer und ich konnte das Filmchen nicht mit einer anderen Katze machen, weil Mr. Wichtig sich dauernd vorgedrängelt hat. Der platzt eines Tages noch vor lauter Wichtigkeit. 😀
Wichtig: das Kissen muss ruhig liegen. Es dient der Katze als quasi-Schutzwall, sie sieht die Hand nicht und hat etwas zwischen sich und dem Menschen.
Erstmal wird sie nur den Pinsel beobachten und nicht pföteln. Wenn sie interessiert den Pinsel mit den Augen verfolgt, dann das Kissen auf Pfotenreichweite legen. Irgendwann wird sie ganz vorsichtig erst den Pinsel bepföteln und dann Angst vor der eigenen Courage bekommen und erstmal wieder nur gucken.
Geduld. Auf einen Fortschritt folgt oft ein kleiner Rückschritt. Das ist völlig normal und immer so. Aber sie wird mit der Zeit mutiger werden.
Was man ab-so-lut unterlassen sollte: Nach der Katze zu fassen. Finger weg! Angefasst wird erst, wenn sie will. Vorher nicht.
So lange die Katze nicht eindeutig (!) von sich aus will, verursacht nach ihr greifen oder fassen nur eines: einen Riesenrückschritt beim Abbau von Misstrauen und Angst. Auch nicht dann mal probieren, wenn sie irgendwo liegt und schläft. Natürlich hat man das Bedürfnis, sie eeeeendlich mal zu streicheln. Aber: Nicht anfassen. Auf keinen Fall. Und wenn es noch so sehr in den Fingern kribbelt.
Man sollte versuchen, einer ängstlichen Katze gegenüber immer (!), also wirklich IMMER signalisieren, dass man sie mag, dass man ihr nichts tun wird und dass sie keine Angst haben muss. Und wenn man am Tag 500 mal in der Wohnung an der Katze vorbei läuft, dann sagt man eben 500 mal ein freundliches Wort zu ihr,
bequakt sie 500 mal und blinzelt 500 mal.
Was auch super ist, sind Rituale. Rituale sind eh das Grösste, wenn man Tiere hat. Tiere, egal welche, lieben sie. Es sind alles kleine Spiesser, die durch regelmässig wiederkehrende Rituale Sicherheit bekommen oder einfach Spass daran haben. Weil sie wissen “oh, jetzt kommt dies und das”.
Bei Wildlingen bietet sich natürlich an, ein Futterritual einzuführen. Man nehme einen Kochlöffel aus Holz (weil nicht so rutschig wie einer aus Plastik) mit einem langen Stil. Je länger, desto besser, weil Abstand zur Hand grösser. Kann man auch mit einem Bambus-Dingsbums, diese Stäbchen eben, verlängern.
Kurz vor der Fütterungszeit (denn da sind sie am hungristen 😀 ) gibt es dann z.B. Vitaminpaste oder ein Leckerli oder halt das, worauf die Katze total abfährt, auf dem Holzlöffel angeboten. Mit der Zeit kann man laaaangsam damit die Katze etwas näher an sich ran locken. Man fängt mit ausgestrecktem Arm an, und dann eben immer näher. Aber in winzigsten Schrittchen.
Falls der Angsthas sich nicht traut, versucht man es mit dem Kissen. Also genauso wie beim Kissen-Pinsel-Spiel. Das Kissen dient als Schutzwall für die Katze.
Das funktioniert natürlich nur, wenn der Katze nicht dauernd Futter zur Verfügung steht. Aber das sollte es eh nicht. Zwei bis dreimal täglich (bei Kitten natürlich dementsprechend öfter) gibts was. Dann wird gefressen, soviel rein passt. Sie müssen sich so richtig satt futtern können. Ewig hungrige Katzen sind ewig unentspannte Katzen. Feste Futterzeiten sind wichtig.
Wenn der Angsthas so langsam etwas auftaut, kann man die Spielangel einsetzen. Aber nicht in der Luft, sondern nur auf dem Boden. Oder Leckerli über den Boden rollen. Oder Bällchen. Nichts werfen oder mit irgendwas in der Luft rumfuchteln, nur über den Boden kullern oder ziehen.
Und bei alledem, egal was man macht, kommunziert man mit der Katze. Sobald sie einen anschaut, piept man sie an (wir erinnern uns, das Mama-Baby-Getue, gell? “Du kleines Stinkerl, guck mal, willst du das? Du süsser kleiner Zuckerhase” — so in der Art eben. Immer!), man blinzelt was das Zeug hält und bewegt sich immer laaaaangsam an der Katze vorbei. Wer gedankenlos durch die Bude galoppiert und den Angsthas ein ums andere mal damit erschreckt, hat ganz schlechte Karten.
Parties sollte man in der Wohnung auch nicht stattfinden lassen, is klar, ne?
Kleines Kind im Haus? Finger weg von Wildlingen oder Angstkatzen.
Wenn euer Mann/Freund/Frau/whatever nicht 100% mitspielt, dann lasst es. Es bringt nix, wenn einer mit dem Arsch einreisst, was der andere mit den Händen aufbaut.
Und wenn ihr das alles macht und zwar mit Herz und Liebe und Geduld-Geduld-Geduld habt, auch wenns länger oder sogar lange (Monate können das sein) dauert, dann verspreche ich euch (ernst gemeint!), dass ihr am Ende vielleicht keine Schosskatze haben werdet, aber eine Katze, die sich anfassen lässt und die euch von Herzen dafür liebt, dass ihr ihr die Angst genommen habt.
Wenn ihr Pech habt, habt ihr danach eine Klette, wie ich sie in vielfacher Ausführung habe. 😀
Ehemalige Wildlinge haben eine Neigung, zu Kletten zu werden. Mir kommt es so vor, als wenn bei den Katzen die Angst erstmal besiegt ist, sie alles-alles-alles nachholen müssen, was sie an Schmuseeinheiten und Aufmerksamkeit in ihrem bisherigen Leben verpasst haben. Sie können gar nicht mehr aufhören, sich darüber zu freuen, dass sie keine Angst mehr haben müssen. Sie mutieren dann gerne zu Aufmerksamkeits-Junkies, die depri werden, wenn sie sich vernachlässigt fühlen.
Keine Katze MÖCHTE Angst haben. Und wenn sie sich noch so anstellt, sie macht das nicht aus bösem Willen oder der Absicht, euch zu ärgern. Sie hat schlicht und einfach richtig grosse Angst. Immer dran denken, gell?
Quelle: http://haustierwir.blogspot.com/2011/06/der-umgang-mit-wildlingen-und-seeehr.html
Autor: Balli